Indien – 1. Bericht von Constantin

Sehr geehrte Rotarier,

Am 15. August traf ich in „meiner“ Stadt, die fuer mich ein Jahr meine Heimat sein wird nach einer anstrengenden Reise an. Coimbatore ist mit rund 1,1 Millionen Einwohnern die zweitgroesste Stadt im Bundesstaat Tamil Nadu welcher der suedlichste Indiens ist.

Wir sechs Deutsche wurden in den Morgenstunden von unseren Gastfamilien und vielen Rotariern sehr, sehr herzlich mit Blumen und einem Halsschmuck am Flughafen willkommen geheissen. Meine Gasteltern haben mich direkt vom Flughafen aus sofort in ein Restaurant zu einem “Willkommen-Fruehstueck“ mitgenommen. Da ich noch voller Aufregung war und das indische Essen ja so komplett unterschiedlich ist, habe ich nicht wirklich etwas herunterbekommen. Meine Gasteltern aber waren sehr besorgt, dass ich zu wenig gegessen haben koennte, so haben sie darauf bestanden, dass ich unbedingt alles aufessen sollte.  So wuerde ich meinen ersten Kontakt mit indischem Essen als „eher muehselig“ beschreiben. Nach dem Fruehstueck sind wir dann endlich „nach Hause“ gefahren. Dort habe ich dann meine ganze Gastfamilie kennengelernt. Die „kleine“ Familie besteht aus Suresh und Pamela meinen Gasteltern, Rohan, 11 Jahre alt und Kevin, 16 Jahre alt, der erst nach einem Monat zu seinem Exchange year nach Deutschland geflogen ist. Aber eigentlich sind immer noch andere, staendig wechselnde Familienmitglieder im Haus. Ueber laengere Zeit wohnt ein Cousin namens Vignesh mit uns und die Großmutter, Mutter meines Gastvaters, Shamela, die ich aber nur Amama rufe. Sofort habe ich mich in meiner neuen Familienumgebung sehr wohlgefuehlt, was ich wirklich toll fand und mich ungeheuer erleichterte. Mit allen Familienmitgliedern verstehe ich mich bestens und habe bis heute doch ein sehr vertrauensvolles Verhaeltnis aufgebaut. Dass Kevin, der genauso alt ist wie ich, noch die ersten Wochen als Gastbruder da war, war für mich sehr gut.
Meine ersten Tage hier in Indien waren schon ein wenig muehsam fuer mich, da das Klima eine totale Umstellung erforderte. Ich wusste dies zwar aus meinen Vorbereitungen, aber die Realitaet ist dann noch einmal anders! Ich war in den ersten Wochen enorm geschwaecht und brauchte sehr viel Ruhe, um Kraft zu tanken. Besonders die enorme Hitze in den Mittagsstunden machte mir ganz schoen zu schaffen. Tag fuer Tag gewoehnt man sich aber besser an die Begebenheiten. Vor meinem Abflug hatte ich ein wenig Sorge wie ich mit dem scharfen indischen Essen zurechtkommen werde, da wir zu Hause natuerlich solch eine Schaerfe nicht kochen und ich scharfes Essen sogar eher hasste! Aber zum Glueck waren meine Sorgen total unbegruendet. Zwar essen die Inder scharf – aber super lecker! Ich habe mich wirklich sehr schnell daran gewoehnt und esse jetzt sogar manchmal schaerfer als manche Inder. Meine Gastfamilie freute sich mit mir.

Meine Familie kommt aus dem indischen Mittelstand und wohnt in einem nach deutschen Verhaeltnissen extrem kleinen Haus. Aber das ist eigentlich total super, da man die meiste Zeit zusammen verbringt und immer mitbekommt, wer da ist und was der andere tut. So war ich immer gleich mittendrin im Familienleben und hatte nie das Gefuehl nicht dazuzugehoeren. Ich glaube, dass ich fuer mich eine perfekte Familie gefunden habe. Sie sind sehr warmherzig und immer bemueht darum mir viel zu zeigen und nehmen mich zu all ihren Unternehmungen mit. Pamela ist wie eine Mutter um mich besorgt und Suresh, mein Gastvater ist ein richtig vaeterlicher Freund, mit dem ich viel reden kann.
Die ersten anderthalb Monate war fuer mich keine Schule, da in dieser Zeit die Schueler ihre Examen hatten und danach sind sie auf eine Exkursion gefahren, an der ich aber nicht teilnehmen konnte. Somit hatte ich genug Zeit mich an alle neuen Umstaende zu gewoehnen und zurechtzufinden.
Da ich ein begeisterter Tennisspieler bin habe ich einen Tennisplatz aufgesucht und den Coach gefragt, ob ich denn Tennis spielen koennte. Bevor er mir zusagte wollte er mit mir fuer eine halbe Stunde Probetraining machen. Danach sagte er mir, dass er mich jeden Tag auf dem Tennisplatzt spielen sehen will und mich gern trainieren wuerde.
Etwas ganz Neues habe ich fuer mich sehr schnell entdeckt: Yoga! Da meine Gasteltern regelmaesig zur Yogaklasse fahren kann ich hierbei einfach mitmachen. Die Uebungen finde ich wirklich super fuer das gesamte koerperliche Gleichgewicht. In meiner Gastfamilie nimmt Yoga einen festen Platz ein. Es ist weit mehr als nur sportliche Uebungen, es ist eine komplette Lebenseinstellung, über die ich in Gespraechen mit meinem Gastvater sehr viel erfahren kann. Zwar kann ich die Lebensansicht Yogas nicht ganz teilen, aber ich habe enormen Respekt davor, wie gerade meine Gasteltern durch Yoga ihre innere Ruhe finden.  Mit Yoga und Tennis waren meine Tag mit Sport gefuellt und dabei fuehle ich mich richtig fit.
Nun gehe ich mittlerweile seit eineinhalb Monaten zur Schule. Hier werde ich mit einem komplett anderen Schulsystem konfrontiert. Fuer mich beginnt der Tag um sieben Uhr. Da ich eine Schuluniform zu tragen habe, muss ich diese jeden Morgen auch buegeln. Nach dem Fruehstueck laufe ich dann zu meiner Schulbusstation. Der Schulbus ist voller Leben und Laerm. Da die Kinder schon mit 4 Jahren zur Schule gehen muessen und meine Schule auch eine Grundschule inne hat, sind sehr viele kleine Kinder dort, die mit mir spielen wollen und sich eben von mir etwas aus meiner Heimat erzaehlen lassen wollen. Je nachdem wie es mir geht, macht dieser Laerm mir gar nichts aus und ich geniesse die kleinen Kinder. Doch manchmal wenn ich noch ein wenig muede oder einfach nur k.o bin, ist es wirklich anstrengend für mich. In der Schule angekommen ist die Trennung von Jungen und Maedchen „Gesetz“. Sogar im Treppenhaus laufen die Jungs auf der anderen Seite als die Maedchen. Im Klassenzimmer sitzen alle Maedchen auf einer Seite und auf der anderen Seite die Jungs. Selbst das Anschauen von Mädchen und Jungen wird mit dem Spott des Lehrers bestraft. Bei mir sieht man das zum Glueck alles nicht so eng! Am Anfang eines jeden Tages wird die Nationalhymne gesungen und dann spricht jeder einen Schwur, der besagt, dass man sein Vaterland liebt und jeden Inder als Bruder und Schwester betrachtet, und noch einige andere Dinge die die Schule als grundlegend fuer ein gutes soziales Zusammenleben erachtet. Danach beginnt der Unterricht. Es gibt drei Zuege pro Stufe. Zwei naturwissenschaftliche Klassen und eine Buissnes-Klasse. Da Kevin, mein Gastbruder, in der naturwissenschaftlichen Klasse war, bin ich dort mit eingestiegen. Hier sind meine Faecher Physik, Chemie, Mathematik, Englisch, Computer-Wissenschaft und Franzoesisch. Die Lehrer haben hier generell eine andere Art und Weise zu unterrichten. Der Unterricht besteht nur aus einem Monolog des Lehrers, den die Schueler aufmerksam verfolgen sollen. Das Tafelbild wird komplett in das Heft uebernommen und soll genau so zu Hause auswendig gelernt werden. Fragen zum Verstaendnis stellen die Schueler eigentlich nicht. Wenn ich nach dem Unterricht dann einmal nach Zusammenhaengen frage, da ich nicht alles verstanden habe, koennen sie mir meistens meine Fragen nicht beantworten, sagen nur, das waere eben so und sie würden es genauso lernen. Von Deutschland bin ich gewohnt, Texte, die wir zu lesen bekommen, muessen wir verstehen und textbezogene Fragen mit unseren eigenen Worten beantworten. Im indischen Schulsystem ist es so, dass die Schueler sich die Fragen anschauen und dann im Text nach der Antwort suchen muessen. Wenn sie diese gefunden haben, wird sie auswendig gelernt und wortwoertlich abgeschrieben. Die Schueler lesen nicht die Buecher, sondern lernen sie zum Teil auswendig. So sind sie dazu aufgefordert pro Tag zwei bis drei Stunden zu lernen. Damit nimmt die Schule ungeheuer viel Zeit im Leben eines jeden Schuelers ein, dass jede Moeglichkeit fuer außerschulische Aktvitaeten in der Woche gleich Null ist. Zum Glueck bin ich gerade hier in der 11. Klasse und dieses Jahr scheint nicht so wichtig zu sein., sodass die Schueler dieser Jahrgangsstufe nicht so belastet sind. So spiele ich nach der Schule mit den Jungs und Sportlehrern Volleyball oder fahre mit dem Schulbus nach Hause und spiele Tennis. Da die Lehrer wissen, dass ich keine Zertifikate brauche um das Jahr hier zu bestehen, werde ich hier ein wenig aus den sehr strengen Regeln ausgenommen. Somit habe ich glücklicherweise ziemlich viele Freiheiten und kann meinen Schultag so gestalten dass ich mich wohlfuehle.
Nach einem Schultag bin ich immer ausserordentlich fertig und muede, geniesse abends noch mit meiner Familie zu erzaehlen und gehe meist frueh ins Bett.

Zur indischen Kultur moechte ich auf eine Geschichte hinweisen.

Die Blinden und der Elefant

Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten wurden von ihrem König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen.
Als sie zurück zu ihrem König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel betastet. Er sprach: „Ein Elefant ist wie ein langer Arm.“ Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: „Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer.“ Der dritte Gelehrte sprach: „Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule.“ Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der vierte Weise sagte: „Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende“, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet. Und der fünfte Weise berichtete seinem König: “ Also ich sage, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf.“ Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt.
Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte weise: „Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist.“

Diese Geschichte kann man auch auf die Indische Kultur beziehen, da es nicht „die eine“ indische Kultur gibt, sondern in jedem Teil Indiens ist sie unterschiedlich. Um zu sagen, dass man die indische Kultur wirklich kennt und versteht, muesste man also in mehreren Teilen gelebt haben. Da man schon Unterschiede in Braeuchen, Aussehen und Verhalten im Umkreis von 50 Kilometern spuert und sehen kann, liegt es nahe, dass der Sueden sich enorm von dem Norden unterscheidet.
Glücklicherweise habe ich eine Gastfamilie, welche mir die Kultur aus dem Sueden so gut wie moeglich nahe bringen will. Wir besuchen viele Tempel, enorm viele Hochzeiten und viele Freunde in ihren Haeusern. Mir wird immer super viel erzaehlt und gezeigt. Auch Feste einer anderen Religion, wie z.B. Diwali, zu feiern, war für mich sehr interressant. Waehrend ich mich auf mein Auslandsjahr vorbereitet habe, habe ich viele ueber den Kulturschock gehoert und gelesen. Ich muss sagen, ich spuerte und merkte ihn in meiner Familie nur teilweise. Auch wenn die Lebensumstaende meiner Gastfamilie nach deutschen Verhaeltnissen eher einfach sind, so sind sie aber sehr modern und westlich gesinnt. Fuer mich war dies bestens, da ich so an die kulturellen Unterschiede langsam herangeführt mich daran gewoehnen konnte. Klar habe ich auch schon zu spueren bekommen, wie groß die Schere zwischen arm und reich aufgeht.
Indien ist ein Land welches sehr schnell waechst, dieser Wachstum hat viele positive Seiten. Die Menschen sind unheimlich stolz auf den Wachstum Indiens. Aber vielleicht waechst alles ein wenig zu schnell! Die Energieversorgung ist absolut mangelhaft und gar nicht durchgeplant. In meinem Staat Tamil Nadu sind z.B. 14 Stunden Stromausfall am Tag. Oft klettern irgendwelche Leute in den Strommasten herum und zapfen den Strom ab. Es entwickelt sich hier zu schnell um eine Energie und Wasserversorgung fuer alle zu garantieren. Auch ist die Bevoelkerung einfach zu gross dafür, dass sich der Staat eine Sozialversicherung erlauben koennte. Somit haben die Menschen, die keinen Job und keine Familie haben in der sie Unterstuetzung bekommen koennten, nichts weiter als ihr Leben auf der Strasse. Es gibt Viertel, Slums,  in der Stadt, in denen Menschen absolut unwuerdig zusammenleben. Es herrscht ein Gestank in dem ich es keine 10 Minuten aushalten koennte. Die Kinder gehen nicht zur Schule sondern sind auf der Strasse zu finden. Auch habe ich aus dem Auto einen toten Mann am Strassenrand liegen sehen, was mich fassungslos machte. Dies sind die negativen Seiten dieses exzessiven Wachstums. All diese Sachen die ich immer nur in den Nachrichten oder Dokumentationen gesehen habe sehe ich jetzt mit meinen eigenen Augen und sie beruehren mich zutiefst.
Aber dies gehoert auch zu Indien und es ist gut das zu wissen!

Auf alle Faelle freue ich mich nun schon riesig auf meine Indien Touren ( Suedtour, Nordtour, Himalaya) und bin dankbar, dass ich daran teilnehmen darf. Da habe ich die einmalige Chance viele Staedte und besondere Orte sehen zu koennen. Zuerst werde ich an der Sued Tour teilnehmen worauf ich sehr gespannt bin. Für Deutsche unvorstellbar, aber meine erste Tour startet am 24.12.2012fuer mich! Am Heiligabend nehme ich in der Nacht einen Zug. Während in Deutschland alle in den Weihnachtsvorbereitungen stecken und bei kaltem Wetter es sich zu Hause gemuetlich machen, sind bei uns nach deutschen Verhaeltnissen sommerliche Temperaturen. Ich weiss jetzt, wie sehr ich die deutschen Jahreszeiten vermisse!

Nun bin schon seit Mitte August hier und kann sagen, dass es wirklich meine beste Entscheidung war mit Rotary einen Austausch nach Indien zu machen. Ich habe die Chance eine voellig andere Kultur als Mitglied einer Familie kennenzulernen, merke sehr große Unterschiede zu den Bequemlichkeiten in meinem deutschen Alltag, aber merke auch, dass es auf ganz andere Dinge im Leben ankommt. Die Menschen um mich herum sind neugierig auf mich, begegnen mir voellig offen und freundlich. Ich glaube in Deutschland kann man man noch ein wenig daran lernen, dass man an einem Fremden Interesse haben muss und ihm nicht erst einmal mit Skepsis begegnen muss. Mit den Erfahrungen die ich hier machen kann, bekomme ich doch einen anderen Blick auf viele Dinge. Dafuer bin ich dankbar. Auch lerne ich hier Dinge in Deutschland viel mehr zu schaetzen, als ich es vor meinem Jahr tat. Ja, es wird mir erst jetzt so richtig bewusst, wie ich doch Deutschland liebe.

Bedanken moechte ich mich bei meinem entsendenden Rotary Club , der mir die Chance zu diesem einzigartigen Jahr gegeben hat.

Eine schoene Adventszeit und dann „Frohe Weihnachten“ aus Coimbatore bei 30 Grad.

Constantin Minkner

Schreibe einen Kommentar