Mexiko – erster Bericht von Cosima

In einem Auslandsjahr zu sein, ist etwas Merkwürdiges. Alle sprechen immer darüber, wie toll es ist oder war oder werden wird, und es ist ziemlich komisch, plötzlich mittendrin zu sein. Ich glaube, so fühlen sich Schauspieler, die sich immer vorstellen und wünschen, berühmt zu sein, und plötzlich sind sie es, und können es gar nicht so richtig begreifen.

Ich bin jetzt seit vier Monaten hier in Mexiko Stadt, und das ist unglaublich viel und wenig auf einmal. Die Zeit vergeht wie im Flug, aber gleichzeitig habe ich natürlich auch so viel gelernt, so viel gesehen und so viele neue Menschen kennen gelernt, dass man sich schwer vorstellen kann, dass das alles in nur vier Monaten passiert ist. Schon am ersten Tag hab ich mich verändert, einfach weil ich es tatsächlich durchgezogen habe und ins Flugzeug gestiegen bin, losgeflogen in ein fremdes Land, dessen Kultur zu der deutschen kaum unterschiedlicher sein könnte, und lebe jetzt hier in einer fremden Familie für ein ganzes Jahr. Und am Anfang hat mich das alles ein wenig überwältigt, denn ich muss zugeben, dass ich mir Dinge meistens einfacher vorstelle, als sie wirklich sind, das Auslandsjahr einbezogen. Ich war also die erste Woche alleine mit meinen Gasteltern und wollte einfach nur wieder nach Hause, weil alles so anders und ungewohnt war und ich mich davon erdrückt gefühlt hab. Doch gleich am ersten Schultag wurde alles schlagartig besser, denn ein Unterschied zwischen Deutschland und Mexiko ist, dass es um einiges leichter ist, Freunde zu finden, vor allem, wenn man aus einem fernen Land kommt. Ich bin die erste und einzige Austauschschülerin auf meiner Schule und auch die einzige mit blonden Haaren und blauen Augen, das heißt natürlich, dass ich auffalle. Die ersten Tage waren ein Wirbel aus Blicken und Fragen, von denen mir nicht alle unbedingt gefallen haben. Mir wurde jedoch gesagt, ich sollte mich nicht ärgern über Sachen wie „Hasst du eigentlich Juden?“, weil die meisten Mexikaner das lustig finden und nicht wirklich die Ausmaße kennen von allem, über das sie reden. Das Schulsystem hier ist komplett anders als das deutsche. Es gibt viele Fächer, die wir nicht haben, zum Beispiel Lógica, wo man logisches Denken lernt, oder ein Mal die Woche Orientación, wo man ein bisschen von allem lernt; Schulgeschichte, Teamwork, Sexualkunde… Dafür hat man hier aber nur ein Jahr lang Fächer wie Physik, Chemie, Biologie oder Musik. Auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist anders. Die Lehrer werden hier mit Vornamen angesprochen und wie alle anderen auch mit Umarmung und Kuss auf die Wange begrüßt. Alles in Allem sind die meisten Lehrer eher Freunde als Respektpersonen, was nicht immer gut läuft, da bei manchen die Klasse dann einfach eskaliert. Fast alle kriegen es aber durchaus gut hin. Am Anfang hat mich es etwas irritiert, wenn ein Lehrer mich rippenbrechend umarmt hat, aber mittlerweile habe ich mich dran gewöhnt und mag es sehr gerne, da es eine wirklich schöne Verbindung zwischen Lehrer und Schüler herstellt. Doch so cool und nett alle sind, die Schule ist unglaublich streng, und meine noch eher weniger als andere. Die meiner Gastschwester Carla (11), die eine Woche nach meiner Ankunft hier von einem Verwandtenbesuch aus Panama wiederkam, ist so streng, dass man einen Report bekommt, wenn auch nur ein Teil der Uniform fehlt, wenn man Armbänder oder offene Haare trägt, oder wenn man im Beisein des falschen Lehrers im Gang singt. Der Dresscode bei uns ist ziemlich simpel; unser Schulshirt, eine lange Hose und für die Jungs kurze Haare, für die Mädchen lange. Färben der Haare mit unnatürlichen Farben ist auch verboten, aber sonst ist alles relativ locker. Die Hausaufgaben sind aber eine andere Sache. Alle müssen gemacht werden, vergessen gibt es nicht, egal was, sonst gibt es einen Report. Hat man drei davon, wird man für ein paar Tage der Schule verwiesen und fällt automatisch durch das Fach durch. Das heißt, wenn die Schule um halb drei vorbei ist, unternimmt man hier nichts, sondern geht nach Hause und erledigt den Berg von Hausaufgaben, was natürlich ein kleiner Nachteil für mich ist, da ich dann nichts zu tun habe. Ich versuche, so viele Hausaufgaben wie möglich zu machen, aber für das meiste ist mein Spanisch einfach noch nicht ausreichend. Mathe und Physik sind hier aber um einiges leichter als in Deutschland und ich verstehe alles, also kann ich gut mitmachen und bin eine der Besten im Unterricht. Meine Lieblingsfächer sind aber Spanisch, da ich den Lehrer sehr gerne hab und er sehr interessiert an mir ist, weil ich aus dem Land von Goethe, Schiller und Lessing komme, und diese tatsächlich auch gelesen habe, und logischerweise Englisch, da ich ungehindert teilnehmen kann. Die Noten hier gehen von 0 bis 100, wo null das Schlechteste ist und 100 das Beste, und bestehen aus Hausaufgaben, Teilnahme am Unterricht und der Größte Teil ist Examen. Alle zwei Monate wird zwei Wochen lang am Tag mindestens ein Examen geschrieben. Letztes Mal habe ich nur an Dibujo (Kunst) und Englisch teilgenommen, wo ich eine 99 und eine 100 bekommen habe, aber nächstes Mal werde ich alle mitschreiben, um zu testen, wie es mit meinem Verstehen im Unterricht und meinen Ausdrucksvermögen steht. Für meine freien Nachmittage haben meine Familie und ich eine Lösung gefunden: den Sportclub Cuicacalli. Beide meine Gastfamilien sind Mitglieder und man kann dort so ziemlich alles machen, was man sich an Sport so vorstellen kann, von Spinning über Kung-Fu zu Schwimmen und Zumba. Da ich mich aber super mit meinen drei Gastschwestern Carla, Mariana (14) und Danny (16) verstehe, nehme ich an den gleichen Kursen wie sie teil. Das heißt montags 2 Stunden Tanzen und Muskeltraining, dienstags zwei Stunden Badminton, mittwochs beides und am Donnerstag Saxophon (außerhalb des Clubs) und nochmal Badminton. Besonders Badminton gefällt mir total gut und es gibt dort auch ein paar Leute aus der deutschen Schule, die also fließend meine Sprache sprechen und mit denen ich mich sehr gut verstehe. Das einzige Problem am Sport ist, dass Mexiko Stadt nicht nur viel höher liegt als Dresden, sondern auch um einiges dreckigere Luft hat, also hab ich manchmal etwas Schwierigkeiten mit dem Atmen, aber nichts allzu dramatisches. Auch mit dem Essen hatte ich keinerlei Probleme wie Krankheiten oder so, es schmeckt einfach nur super. Natürlich vermiss ich ein paar Sachen wie Schwarzbrot oder Apfelschorle oder so, aber Tacos und Frijoles und Pozole und co. sind echt fantastisch und manche Süßigkeiten hier (wie Chips fuegos, Pop Tarts und Brownies von Costco) könnte ich non-stop essen. Andere wiederum sind ziemlich gewöhnungsbedürftig, vor allem die mir Chili, weil es für mich einfach ungewohnt ist, süß und scharf zusammenzupacken. Was mich in Mexiko aber am meisten überrascht hat, ist der Verkehr, der ein absolutes Chaos ist. Man kann mit 15 schon fahren und alles, was man machen muss, ist eine sehr leichte Fahrprüfung ablegen, keine Stunden und nichts, und dazu hat fast jede Familie mindestens zwei Autos. Das resultiert dann in vielen Autos mit öfters mal schlechten Fahrern auf schlechten Straßen, was eskaliert zu unzähligen Staus und Unfällen überall. Und egal, was passiert, es wird immer gehupt, was dann auch noch den entsprechenden Lärmpegel hinzufügt. Auch Busse stellen ein Problem dar. Es gibt sie zwar, aber sie fahren wann sie wollen, wohin sie wollen, halten, wann sie wollen und fahren, so lange sie wollen. Da sie keiner Organisation angehören, kann auch keiner was dagegen machen. Sehr unsicher sind sie auch, man wird sehr oft ausgeraubt, wenn man im Bus fährt. Außerdem sind die Busse nicht versichert, da sie aber „öffentliche Verkehrsmittel“ sind, können sie rücksichtslos fahren und all der Schaden, der bei einem Unfall entsteht, muss von Zivilistenauto bezahlt werden, egal wessen Schuld. An jeder Ampel führen dann Leute kleine Shows mit Feuer, Bällen oder als Clown verkleidet auf, um sich wenigstens ein bisschen Geld zu erbetteln, da Armut ein großes Problem in Mexiko ist. Es gibt zu viele Menschen für zu viele Jobs und zu wenige mit ausreichender Schulausbildung, da das alles hier sehr teuer ist und der Staat nicht viel Hilfe erteilt. Man sieht also viele Leute, die auf der Straße leben und sich und ihre Familie nur gerade so über Wasser halten können. Auch ist Schule nicht das einzig teure hier. Essen, Schulzubehör und co. ist hier sehr billig, Konzerte auch. Ich war bei Miley Cyrus für 30€. Klamotten sind aber richtig teuer, so teuer, dass die meisten lieber ein Mal im Jahr in die U.S.A. fliegen, um sich mit Klamotten einzudecken, als hier einzukaufen. Was auch nicht sehr teuer ist sind Zigaretten und Alkohol, was die Partys hier natürlich durchaus beeinflusst, auch da Minderjährige kein Problem haben, an beides ranzukommen. Es gibt also auf jeder Party Leute, die es etwas übertreiben, aber man findet immer ein Grüppchen, dass nüchtern bleibt, mit denen man dann tanzen, reden und lachen kann. Das wird von Jungs jedoch manchmal etwas falsch aufgenommen. Generell ist man hier um einiges offener mit seinen „Gefühlen“, und da blonde Haare und blaue Augen etwas Außergewöhnliches sind, kriege ich besonders auf der Straße mehr Aufmerksamkeit, als mir manchmal lieb wäre. Meistens sind es harmlose Sachen wie „Oh, hola guapa!“, oder an Ständen „Bonitas no tienen que pagar! (Hübsche müssen nichts bezahlen!), aber manchmal wird es schon etwas unheimlich, wenn sie einem zum Beispiel anfangen, hinterherzulaufen und zu pfeifen. Besonders nachts darf ich nirgendwo zu Fuß hin, da es einfach zu unsicher ist, also werde ich überall mit dem Auto hingebracht, aber nach ein bisschen dran gewöhnen hat das ganz schön viele Vorteile. Da es hier viel Armut gibt, wird aber natürlich auch mehr geklaut. Man läuft über die Straße und hat plötzlich eine Pistole am Kopf, oder, wie in meinem Fall, man dreht sich kurz weg und dann ist das Handy weg. Generell die Verbrechensrate hier ist sehr hoch und die Bestrafungsrate sehr niedrig, und es wird langsam schlimmer, wie man es auch in Deutschland in den Nachrichten hört. Zurzeit hält es sich noch so weit in Grenzen, dass meine Gastmutter noch nicht sonderlich beunruhigt ist. Sie sagt, die Mexikaner wären dran gewöhnt. Mich hat aber wirklich überrascht, dass die meisten „Klischees“, die wir Deutschen gegenüber Mexiko so haben, tatsächlich wahr sind. Es gibt zu jedem Essen Tortillas und Tikila (ja, auch zum Frühstück), und es ist wirklich immer jeder unpünktlich. Mit der Unpünktlichkeit komme ich gut klar, da ich in Deutschland selber nie die Pünktlichste war, und da man einfach nur lernen muss, einzuschätzen wann man kommen muss. Wenn eine Party zum Beispiel um 7 anfängt und man dann tatsächlich aufkreuzt, kann man sich auf eine unangenehme Wartezeit vorbereiten. Man kommt dann einfach so um 9 rum, dann ist man auf der guten Seite. Was mich aber doch ganz schön gestört hat, war, dass wenn man etwas mit jemandem plant, wird IMMER kurzfristig abgesagt. Man kann sich nicht sicher sein, dass etwas stattfindet, bis es tatsächlich stattfindet. Eine gewisse Spontanität wird also schon gefragt, was mittlerweile recht einfach ist, da ich jetzt so viele Freunde habe, dass man immer mehr als eine Option hat, und dann einfach sieht, wer absagt und wer nicht. Und es ist auch wahr, dass Mexikaner wahrscheinlich die offensten, fröhlichsten und freundlichsten Menschen sind, die man im Leben kennen lernen wird. Ich wurde so wunderbar aufgenommen und alle waren interessiert und hilfsbereit und einfach so lieb zu mir, dass ich mich sofort wohl gefühlt hab. Auch meine Gastfamilien sind super. Meine jetzige (Gaby, Carlos und meine kleine Schwester Carla) macht sehr viel mit mir und behandelt mich praktisch wie eine richtige Tochter. Meine zweite (Gaby, Oscar und meine Schwestern Mariana und Daniela) sind gute Freunde der ersten Familie, das heißt, ich verbringe viel Zeit mit ihnen und verstehe mich blendend, vor allem mit den Töchtern. Durch sie habe ich auch ganz viele Freunde außerhalb der Schule gewonnen, durch Familie und Bekannte etc.. Unser Rotaryclub hat mich am Anfang etwas enttäuscht, da sie nicht viel organisiert haben, aber wir haben es dann einfach selbst in die Hand genommen und angefangen, uns zu treffen, und jetzt ist der Club auch mit eingestiegen, was mich sehr freut. Alles in allem hab ich ungeheuer viel gelernt über Kultur und Mensch in Mexiko und fühle mich hier jetzt zu Hause, aber am meisten gelernt hab ich über mich selbst. Ich habe ungeheuer an Selbstvertrauen gewonnen indem ich auf fremde Menschen zugegangen bin und sie einfach angesprochen habe und dadurch so viele Freunde gewonnen habe. Ich habe gelernt, dass man nicht nur ein zu Hause haben kann und dass mit der richtigen Einstellung eine fremde Sprache viel schneller die eigene wird, als man denkt. Ich habe Freunde gefunden und Familie, und es war vielleicht nicht immer alles perfekt, aber selbst die schwierigen Momente würde ich nicht hergeben wollen, denn all das macht dieses Auslandsjahr von vielen MEIN EIGENES Auslandsjahr und trägt zu dieser außergewöhnlichen Lern- und Lebenserfahrung bei, die mich jetzt schon so verändert hat. Und an alle zukünftigen Austauschschüler: ich habe den Fehler gemacht, dass ich alles ein bisschen leichtherzig genommen hab. Das klappt schon alles irgendwie. Und das tut es auch, aber natürlich nicht ohne dein Zutun und nicht sofort. Die ersten Wochen sind extrem schwer und man muss sich anstrengen, zu jedem nett sein, auch wenn alle anderen sagen, sie sind doof. Und das wichtigste ist, zu allem Ja zu sagen. Es wird vielleicht nicht nochmal gefragt. Das gleiche gilt für die Sprache. Es kommt nicht einfach von selbst, sondern man muss sich schon ins Zeug legen! Frag nach, schreib auf und versuch es einfach aus, es ist egal, wenn du Fehler machst, die meisten finden das eh eher süß. Und dann, ohne dass man es merkt, fängt man plötzlich an zu sprechen, und plötzlich kommt alles wie von selbst. Man findet sich rein und die Zeit vergeht schneller und schneller und schneller und plötzlich ist man schon mittendrin. Was man auch verstehen muss, ist, dass ein Auslandsjahr kein Urlaub ist, der vom ersten bis zum letzten Tag durchgeplant ist, sondern man lebt jetzt hier. Das heißt also, dass man nicht immer was vorhat, manchmal sitzt man einfach nur im Bett und liest oder so. Und manchmal langweilt man sich, wie auch zu Haus, und das ist komplett normal. Trotzdem sollte man so viel machen wie möglich, auch wenn es vielleicht nicht so cool klingt, denn vielleicht ist es ja doch total lustig, und das schlimmste, was passieren kann, ist, dass man sich mal halt für ne Zeit langweilt. Das Auslandsjahr ist eine riesengroße Chance, um sich in ein anderes Land zu verlieben und mit sich selber mehr eins zu werden. Es zu machen war die beste Entscheidung meines Lebens. Ich bereue nichts und bin unglaublich glücklich hier und sage allen; ergreift die Gelegenheit, ihr kommt als besserer Mensch zurück.

Schreibe einen Kommentar