USA – 3. Bericht von Anne

Liebe Frau Neumann-Trüb, lieber Rotex, liebes älteres Ich und alle, die das hier lesen,

Ich kann es gar nicht glauben. Nur noch 4 Monate sind übrig. Jetzt, wo ich mich endlich eingelebt habe, wo ich mich endlich wohl fühle, wo ich endlich richtig gute Freunde gefunden habe, soll ich schon wieder an meinen Rückflug denken? Das ist doch nicht fair oder? Dieses Jahr hat mir so viel gegeben bis jetzt. Meine Gastfamilie ist die beste Gastfamilie, die man sich wünschen kann und ich kann mein Glück kaum fassen. Ich habe das Gefühl, dass ich in diesem Jahr mehr Erfahrungen gemacht habe, als in meinem ganzen Leben davor. Nicht nur gute, sondern auch eher weniger gute Erfahrungen. Aber wenn ich zurückblicke, denke ich, dass es genau diese sind, die mich wachsen haben lassen. Diese Erfahrungen haben mich stärker gemacht. Ich habe angefangen herauszufinden, wer ich bin, wer ich sein will, was ich mag und was mich stört. Hier, weg von zu Hause und allen Leuten, die mich mein Leben lang kennen, kann ich endlich ich selbst sein. Ich habe die Chance, Dinge auszuprobieren, die ich zu Hause nie tun würde, weil es immer jene Leute gibt, die mich zurückhalten nur weil ich mich nicht „typisch ich“ verhalte. Aber woher wussten diese Leute denn, was „typisch ich“ ist, wenn ich das doch selbst noch gar nicht wusste?

Es wird einem immer gesagt, du kannst alles schaffen, wenn du es nur willst. Vor diesem Jahr war mir dieser Spruch immer ein wenig abstrakt. Doch jetzt kann ich sagen, es ist wahr. Ich habe es hierhergeschafft, weil ich es wollte. Ich habe es in das Musical von meiner Schule geschafft, weil ich es wollte. Ich habe es geschafft Freundschaften zu schließen, weil ich es wollte. Ich habe es geschafft ICH zu sein, weil ich es wollte. So eine Chance bekommst du nie wieder im Leben. Ich will nicht sagen, dass es einfach war, aber ich habe einfach nie aufgehört an mich zu glauben. Habe immer die schönen Dinge gesehen, wenn es mal nicht so glatt lief. Hatte immer mein Ziel vor Augen. Selbst zu bestimmen, wie ich mein Leben leben will ist definitiv eine Stärke, die mir das Auslandsjahr gegeben hat. Und dennoch hat man hier über manche Dinge einfach keine Kontrolle. Zeit zum Beispiel. Warum muss sie vergehen? Und warum vergeht sie immer am schnellsten, wenn man sie am liebsten anhalten würde? Durch die anderen Austauschschüler hier habe ich gelernt, wie wichtig Freundschaft ist. Und wie sehr es wehtut, nicht zu wissen wann man sich wieder sehen wird. Deshalb ist die Zeit, die wir zusammen haben so wertvoll. Es gibt keinen Moment, in dem ich nicht glücklich bin, wenn wir uns alle sehen. Und jedes Mal, wenn wir uns verabschieden müssen, denke ich mein Herz zerspringt. Es ist schlimmer als Liebeskummer! Insbesondere jetzt, wo es langsam dem Ende zugeht… Ich habe noch nie so eine enorme Traurigkeit in meinem Leben erfahren. Daraus stammt auch meine Theorie, dass das Leben exakt ausbalanciert ist. Extrem gute Zeiten sind immer gefolgt von nicht so guten Zeiten. Das ist es, was das Leben aufregend macht. Ohne diese schlechten Zeiten, würden wir ja gar nicht wissen, wie gut die guten Zeiten sind. Und ich denke, das ist in Ordnung. Also versuche ich einfach, mein Leben zu leben, mein Auslandsjahr zu genießen, alles mitzunehmen was ich tragen kann, Fußabdrücke zu hinterlassen und nicht zu traurig zu sein, wenn es vorbei ist, denn ich weiß, dass nachdem ich die Traurigkeit überwunden habe, schon wieder ein neues Abenteuer auf mich wartet.

Anne

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