Finnland – 1. Bericht von Nadja

Zehn Monate kamen mir vor meinem Start ins Auslandsjahr nach Finnland noch so endlos vor, und jetzt schreibe ich nach fast zwei Monaten im Ausland, die wie im Flug vergangen sind, schon meinen ersten Quartalsbericht. In den letzten Wochen habe ich so viel erlebt, dass ich es gar nicht alles in so einem Text wirklich zusammenfassen kann. Ich habe viele, nette Menschen kennengelernt und eine Menge positive Erfahrungen gesammelt. In meiner ersten Woche hier konnten ich und meine Mit-Austauschschüler im Language Camp in Karkku sehr gut von unserem Heimweh abgelenkt werden. Wir haben ein paar Ausflüge gemacht, beispielsweise nach Tampere, und dabei Jugendliche aus der ganzen Welt kennengelernt. Natürlich muss in einem Sprachcamp auch ein bisschen gelernt werden, und deshalb versuchte man, uns zwischen den Mahlzeiten, Saunagängen und Outdoor activities auch ein bisschen Finnisch beizubringen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mir diese Woche für das Erlernen der Sprache nicht wirklich weitergeholfen hat. Es war einfach zu wenig Zeit, alle Grundlagen durchzugehen und nebenbei noch alle neuen Vokabeln so schnell aufzunehmen. Trotzdem hat es eine Menge Spaß gemacht und ich denke jetzt noch ein bisschen wehmütig an diese Zeit zurück, als sich das Auslandsjahr noch ein bisschen wie Ferienlager angefühlt hat.

Nun lebe ich schon seit vier Wochen bei meiner Gastfamilie in Karhula, einem Vorort der Stadt Kotka im Südosten Finnlands. Ich wurde sehr herzlich von meiner Gastmutter Jaana und ihrem Freund Jarmo hier aufgenommen. Meine Gastschwester Jenni hat schon während meiner ersten Woche in Finnland ihr Austauschjahr in Kiel begonnen, sodass wir leider nicht mehr die Möglichkeit hatten, uns kennenzulernen. Wir stehen aber weiterhin in Kontakt. Mein Gastbruder Jani ist in der Armee und deshalb nur sehr selten zu Hause. In den letzten vier Wochen kam mir das Verhalten meiner Gasteltern manchmal ein wenig befremdlich vor, und oft hat es mir auch ein wenig Angst gemacht, wenn beispielsweise an einem Samstagmorgen gegen vier Uhr Freunde meines „Gastvaters“ bei uns in der Wohnung auftauchen und sehr laut miteinander geredet wird – und in Finnland am Wochenende natürlich auch getrunken! Darüber hinaus sind in den letzten Wochen noch ein paar mehr Probleme mit meiner Gastfamilie aufgetaucht. Meine Gastmutter und ihr Freund sind erst vor Kurzem zusammengekommen und deshalb noch in einer Art „Kennlernphase“, bei der ich eher einen Störfaktor darstelle. Wenn sie mal am Wochenende etwas unternehmen, dann meistens ohne mich, was nicht wirklich dazu beiträgt, dass ich mich wie ein Teil der Familie fühle. Wobei man sagen muss, dass meine Gastmutter nicht arbeiten geht, sondern nur zwei Stunden in der Woche einen Yoga-Kurs gibt. Deshalb hätte sie ja eigentlich viel Zeit, etwas mit mir zu unternehmen, aber meistens schläft sie bis zum Mittag, am Wochenende auch bis in den Nachmittag. In meiner ersten Woche wurde mir auch gesagt, dass sie ja nie einen Austauschschüler genommen hätten, wenn sie das Geld für eine andere Austauschorganisation als Rotary hätten, bei der das Aufnehmen eines Gastkindes keine Voraussetzung ist. Das hat mich natürlich erst einmal sehr getroffen, aber ich habe versucht, über solche Dinge hinwegzusehen. Aber jetzt, nach mehr als einem Monat bei meiner ersten Gastfamilie, habe ich erkannt, dass ich etwas unternehmen muss, da ich mich hier nicht wirklich wohlfühle. Ich habe schon mit meinem Club und meinem Counselor darüber geredet und es sind sich alle einig, dass ich bald die Familie wechseln muss.
Meine Schule hingegen, das Kotkan Lyseon Lukio, gefällt mir wirklich sehr gut. Das Gebäude ist zwar relativ alt und renovierungsbedürftig, aber meine Mitschüler sind alle richtig nett und sind vom ersten Tag an offen auf mich zugegangen. Von den Lehrern werde ich meistens ignoriert, was für mich aber auch nicht so schlimm ist. Lukio bedeutet in Finnland die gymnasiale Oberstufe, also das, was bei uns die zehnte, elfte und zwölfte Klasse ist. „Mein“ Lukio besuchen 300 Schüler. Im nächsten Frühjahr sind es dann noch ein paar weniger, denn dann verlässt der dritte, also älteste, Jahrgang die Schule. Der Unterricht beginnt in Finnland etwas später als bei uns um acht Uhr. Meistens aber gehe ich ein wenig später in die Schule, denn jeder Schüler hier hat seinen individuellen Stundenplan, und kann sich aus sieben Blöcken für je fünf Schulperioden unterschiedliche Kurse aussuchen. Morgen gebe ich im Sekretariat meinen gewählten Stundenplan für die kommende zweite Schulperiode ab. Meist habe ich dabei auf die Kurse geachtet, die meine Freunde hier besuchen. Denn was ich wähle ist im Endeffekt auch egal, da ich im Unterricht sowieso nichts verstehe. Gerade läuft, wie am Ende jeder Schulperiode, die Testwoche. Das heißt sieben Tage, wobei die meisten Schüler an fast jedem davon einen Test schreiben müssen. Ich als glücklicher Austauschschüler werde nur an zwei Tests teilnehmen. Den ersten davon, Russisch, habe ich heute schon hinter mich gebracht und übermorgen ist Englisch dran. Morgen jedenfalls werde ich mich mit Ulrike, einer deutschen Austauschschülerin, in Hamina treffen. Mit ihr und Merritt, einer Rotary Austauschschülerin aus den USA, habe ich schon viel unternommen. Ansonsten bin ich hier noch die einzige Austauschschülerin an meiner Schule, aber im Januar sollen zwei Australier kommen, worauf ich mich schon sehr freue. Freunde an meiner Schule zu finden, ist hingegen nicht so einfach. Obwohl ich schon sehr viele Leute kenne, die mich auch einmal auf dem Gang in der Pause grüßen (was in Finnland schon eine sehr nette Geste ist, da die meisten bei einem zufälligen Treffen doch eher auf den Boden starren und schnell das Weite suchen), gibt es relativ wenige, mit denen ich mich sehr oft unterhalte und die ich wirklich meine Freunde nennen kann. Ich denke aber, dass sich das in den nächsten Monaten noch geben wird, denn schließlich brauchen die Finnen erst einmal ihre Zeit zum „auftauen“.

Um hier wirklich Freunde zu finden wurde uns auch gesagt, müsse man die Sprache einigermaßen beherrschen. Ich besuche jetzt zwar schon seit drei Wochen einen Sprachkurs für anderthalb Stunden die Woche, aber so richtige Fortschritte habe ich leider noch nicht bemerken können. Ich denke ich werde meine nächste Gastfamilie dazu motivieren, viel Finnisch mit mir zu reden, sodass ich wenigstens die alltäglichen Dinge verstehen kann, und später vielleicht sogar ein bisschen sprechen. Ich hab mir auch schon Klebezettel für Vokabeln besorgt, mit denen ich dann mein Zimmer tapezieren werde. Ein weiterer Tipp von einer ehemaligen Austauschschülerin aus Frankreich war, sich in der Bibliothek Kinderbücher zu besorgen, um einfache Sätze zu lernen. Ich werde einfach weiterhin mein Bestes geben, um die Sprache zu lernen. Und sollte es nicht klappen, so hab ich es wenigstens versucht.

Besondere Dinge in Finnland neben der Sprache sind weiterhin die unmöglichen Preise im Supermarkt für Lebensmittel und dass Autos auch am hellsten Sommertag die Lichter angeschaltet haben müssen. Jede Person wird hier geduzt (obwohl ich gehört habe, dass in Büros beispielsweise wieder gerne gesiezt wird) und bei einer roten Fußgängerampel geht wirklich niemand über die Straße, da kann diese noch so leergefegt sein. Außerdem sind die Menschen hier wirklich sehr schüchtern, was aber von Person zu Person unterschiedlich wirkt. Manche scheinen wirklich einfach muffig und unfreundlich, die anderen hingegen sind nett und freundlich aber trauen sich nicht wirklich mit einem ins Gespräch zu kommen. Die Finnen sind außerdem sehr sportliche und auf ihre Gesundheit achtende Menschen. Jedenfalls denken sie es von sich. Sehr viele Lebensmittel im Supermarkt sind „light“ und zu jeder Mahlzeit gibt es ein Glas Milch (Ich habe Menschen wirklich noch nie so viel Milch trinken sehen. Mein Gastvater trinkt wenigstens einen Liter am Tag.). Überhaupt sind die Essenszeiten hier etwas anders als in Deutschland. Die Zeiten für das Frühstück sind meistens unterschiedlich, je nachdem wie man aufsteht. Auch am Wochenende wird es in den meisten Familien nicht zusammen eingenommen, sondern jeder macht sich sein Frühstück allein (die meisten Leute schmieren sich ihre Brote auch nur auf der Tischdecke und benutzen keinen Teller, was für mich am Anfang wirklich etwas irritierend war). Das Mittagessen ist in der Regel immer sehr zeitig und meistens noch vor halb zwölf (wo man in Deutschland vielleicht erst mit dem Kochen anfangen würde). Dafür gibt es dann ein zeitiges Kaffeetrinken gegen zwei Uhr nachmittags und ein sehr zeitiges Abendessen gegen halb fünf. Damit man bis vor dem ins Bett gehen nicht verhungert, gibt es meistens noch einen Abend-Snack gegen acht Uhr. Meistens esse ich dann zu jeder Mahlzeit nur die Hälfte, damit ich nicht ganz so arg zunehme, und außerdem braucht mein Bauch ja auch noch Platz für die leckere, finnische Fazer-Schokolade, die ich sicherlich nach meinem Austauschjahr mit am Meisten vermissen werde. Bis es soweit ist, dass ich überhaupt an Abschied denken kann, genieße ich noch mein Jahr in Finnland in vollen Zügen, lerne fleißig Finnisch und versuche, so viele Freunde wie möglich zu finden und am besten Freunde für ein ganzes Leben. Ich habe es bis jetzt noch kein einziges Mal bereut, diese Entscheidung, ins Ausland zu gehen, getroffen zu haben. Auch wenn mal schlechte Zeiten kommen sollten, werden diese mein Leben bereichern und die guten Dinge werde ich umso fester in Erinnerung behalten können. Ich danke Rotary für diese einmalige Möglichkeit, die mir geboten wurde.

Bis dahin können sie alle weiteren Ereignisse in meinem Blog nachlesen: www.suomi-nadja.blogspot.com

Terveisin suomista! Beste Grüße aus Finnland!
Nadja Kühnemann

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